Heldentum im 21. Jahrhundert

In einer Unterhaltung mit einem lieben Freund tauchte neulich das Thema Heldentum auf. Ich verbinde damit ganz unterschiedliche Dinge, darunter den Stolz und Sinn, den eine Heldengeschichte vermittelt, in der jemand Großes wagt und Risiken eingeht, um etwas Wertvolles zu schützen oder zu schaffen. Sie weckt den Wunsch in mir, selbst etwas Sinnvolles zu tun und das Leben besser oder schöner zu machen. Aber sie kann auch Überforderung und Selbstentfremdung mit sich bringen, wenn ich fürchte, an einer Aufgabe zu scheitern und mich zu schämen.

Das Interesse an Heldengeschichten geht bis an den Beginn der aufgezeichneten Menschheitsgeschichte zurück und scheint auch in der modernen und postmodernen Kultur unserer Zeit nicht abzureißen, trotz Aufklärung und rationaler Weltanschauung. Allein die Menge und Popularität der Superheldenfilme, die mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten immer beeindruckender darstellen können, was sonst nur in Fantasie und in Form von Tusche darstellbar war, reichen als Hinweis darauf. Und auch ich liebe diese archetypischen Geschichten, bei denen die Ordnung am Anfang einer Geschichte durch ein chaotisches Element von außen bedroht wird und die Heldin oder der Held ihren/seinen Weg findet, die eigene Kraft zu finden und mit Mut das Chaos zu bezwingen. In den Superheldenfilmen sind das dann meistens irgendwelche Superschurken, Aliens, Monster, Gottheiten, die z.B. einen finsteren Racheplan hegen und alles vernichten wollen, wie etwa Sauron im Herrn der Ringe oder Thanos in „Avengers: Infinity War“, der mit Hilfe der Unendlichkeitssteine die Bevölkerung der Galaxis halbieren will, damit eine abstrakte Balance wiederhergestellt wird. Ein Grund, warum diese Geschichten mir so reizvoll erscheinen liegt darin, dass die Struktur so simpel wie tiefgängig ist: Es ist klar, was die Aufgabe ist, was es zu beschützen gilt, wer der Böse ist und wo es lang geht. Und in der Frage, wie der Held es schafft, ist immer noch genug Spannung, um dabei zu bleiben. Aber wie sieht das in unserem Leben aus? Was können wir in der komplexen Welt der Postmoderne noch als heldenhaft verstehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen? Was darf als Bedrohung gelten, ohne dass wir selbst zur Bedrohung werden? Wie lösen wir Probleme, ohne auf dem Weg selbst zum Problem zu werden? Auch das sind gewissermaßen archetypische Fragen, die so alt sind wie die Menschheit, deren Antworten jedoch in jeder Situation wieder neu gefunden und definiert werden wollen.

Chaos und Ordnung

Ich habe Professor Jordan B. Peterson den Hinweis auf die mir sehr nützlich erscheinende Perspektive zu verdanken, unsere Realität als ein Zusammenspiel von Chaos und Ordnung zu verstehen. Damit ist gemeint, dass wir Zeit unseres Lebens Bereiche haben, die uns bekannt sind, für die wir innere Landkarten haben, in denen wir uns bewegen und zurechtfinden können und Bereiche, die neu, unstrukturiert, möglicherweise auch überwältigend und verwirrend oder gefährlich, aber auch aufregend und lebendig sein können. Das Yin/Yang-Symbol bildet diese Konzeptualisierung wunderbar ab. Leben können wir hierbei vor allem auf dem schmalen Streifen in der Mitte, bei dem wir einen Fuß in der Ordnung haben und einen im Chaos. Dieser Ort fühlt sich sicher und stabil genug an, um nicht vor Angst zu vergehen und herausfordernd und lebendig genug, um nicht in Langeweile zu ersticken.

Wo dieser Punkt im konkreten Leben eines Menschen oder einer Gesellschaft ist, ist nicht festgelegt, denn es hängt vor allem vom inneren Wachstum und der inneren Ordnung und Orientierung ab, wie viel Chaos jemand braucht, um sich lebendig zu fühlen, ohne dabei überwältigt zu werden. Menschen, die wissen, wo sie stehen, die einen stabilen Rahmen haben und im Grunde genommen versorgt sind, werden einen Drang spüren, sich selbst neuen Herausforderungen auszusetzen, zu lernen, Aufgaben zu übernehmen und Verantwortung zu tragen, um zu spüren, dass ihr Leben sinn- und bedeutungsvoll ist. Carl Rogers nannte das die „Selbstaktualisierungstendenz“, die in meinen Augen fundamental darin besteht, dass wir Freude daran haben, die eigenen Fähigkeiten und Talente zu nutzen um Ordnung in’s Chaos zu bringen. Ich wage die Behauptung, dass alle Spiele, wie z.B. Solitär oder Schach, dieses Grundprinzip haben, in einer Situation der Spannung und Unordnung eine (Rang-) Ordnung zu finden. Und es ist dieser Prozess, in den wir uns dafür begeben, der sich nach Flow und Lebendigkeit anfühlt, wenn wir entsprechend gefordert sind.

Das Empfinden von Lebendigkeit hält sich allerdings nur so lange, wie uns das Chaos nicht überwältigt und wir den Boden nicht unter den Füßen verlieren. Passiert uns das durch Verlust, Trennung, Verrat, Übergriff oder Krankheit hört unsere Landkarte auf, wir kennen uns nicht mehr aus, wissen nicht, wie wir uns zurechtfinden sollen und landen bildlich gesprochen in der „Unterwelt“. Alles oder einiges was zuvor funktioniert hat, geht nicht mehr, wir brauchen neue Lösungen zur Erfüllung unserer Bedürfnisse und haben doch keine Ahnung, wie es gehen soll, keine Vorstellung, dass irgendetwas Neues entstehen könnte, was uns den Zustand der Stabilität und inneren Ruhe zurückbringen könnte. Führt uns ein solches Ereignis in einen extremen Zustand der Angst, Panik und des Kontrollverlustes, sprechen wir von einem Trauma, das den Glauben an die Selbstwirksamkeit untergräbt und somit die Hoffnung auf innere Ordnung und Kohärenz aussichtslos erscheinen lässt. Durch langsames Sortieren, Spüren, achtsames Ordnen des Erlebten und viel menschliche Wärme und Zuwendung können wir in einer solchen Lage eine neue Ordnung finden, die uns den Zugang zu Kraft und Zuversicht wieder erlaubt. Das Ergebnis eines solchen Prozesses kann sein, dass wir innerlich besser gewappnet sind, uns der dunklen, chaotischen und brutalen Seite des Lebens zuzuwenden und das Erlernte auch anderen zur Verfügung zu stellen. Hierauf passt der Ausdruck „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“

Der Heros in tausend Gestalten

In traditionellen Heldengeschichten finden wir oft das Motiv der ummauerten Stadt, die Ausgangsort und sicherer Hafen des Helden ist. Dort ist das Leben friedlich, geordnet, jeder hat seinen Platz und so lange man innerhalb der Stadtmauern bleibt, ist alles sicher. Bei Star Wars wäre das Tatooine, auf dem Luke Skywalker groß wird, beim Herrn der Ringe das Auenland, in welchem Frodo Beutlin unter Obhut seines Onkels Bilbo ein beschauliches Leben führt. Gautama Buddha verbringt sein Leben bis zum 29. Lebensjahr im Palast seines Vaters und wird von allen Formen des Leidens ferngehalten, damit er seine Liebe zum Leben nicht verliert und ein weltlicher Herrscher wird. Jedoch gelingt es nicht, diese Ordnung aufrecht zu erhalten, denn außerhalb der Stadtmauern gibt es ein Element des Chaos, eine Bedrohung und eine Herausforderung, die zu meistern notwendig ist, um die schon anwesende oder kommende Not zu wenden. Jemand oder etwas dringt von außen in die Stadt ein und stört die Ordnung, ist Vorbote für weitere Bedrohungen und fordert zum Handeln auf, trotz großer Zweifel und Ängste, die jeden erreichen, der vor einer Situation steht, die er noch nie hat meistern müssen.

Wie kann diese Situation in unserem heutigen Leben aussehen? Denn gerade in Deutschland und der westlichen Welt ist unser Leben sehr strukturiert, die „Stadtmauer“ umfassend. Haben wir unser eigenes Leben einigermaßen stabil auf der Reihe, brauchen wir uns weitestgehend keine Sorgen um Obdach, die körperliche Sicherheit, die Versorgung mit Nahrung oder den Schutz vor der Natur zu machen. Was sind die Elemente des Chaos in unserem heutigen Leben?

Das Universum in deinen Augen

Auf der Maslowschen Bedürfnispyramide folgen auf die Sicherheitsbedürfnisse, die ich als weitestgehend erfüllt/erfüllbar betrachte, die sozialen Bedürfnisse. Im Prinzip finde ich auf dieser Ebene schon wieder genug Chaos für ein ganzes Leben, denn schon ein anderer Mensch kann so kompliziert sein, dass eine wirklich authentische, ehrliche Begegnung mit jemandem mein Herz vor Aufregung schneller schlagen lässt. Ich schlage vor, sich jemanden Vertrautes zu schnappen und sich gegenseitig mindestens eine Minute lang in die Augen zu schauen, um zu spüren, was ich meine. Wir haben Regeln, Sitten, Bräuche und Gewohnheiten um uns gegenseitig genug Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu geben, um es miteinander auszuhalten und nicht vor Angst davon zu laufen, wenn wir uns begegnen. Aber wenn wir genau hinschauen, merken wir, dass eine authentische Begegnung zu allem Möglichen führen kann, auf das wir Lust oder vor dem wir Angst haben können, je nach innerer Stabilität oder Grad der Verbundenheit mit der anderen Person. Und wenn ich in einer stabilen Beziehung oder Freundschaft ein konflikthaftes Thema ansprechen will, weil es mir Druck macht, merke ich, wie viel Mut ich brauche, um dem potenziellen Chaos in’s Auge zu blicken, das darauf folgen kann. Deswegen machen wir es vermutlich oft auch nur, wenn es wirklich nicht mehr anders zu gehen scheint.

Dienst an der Gemeinschaft

Diese Erfahrung kann ich von der individuellen Ebene auch auf die kollektive Ebene übertragen, denn wenn schon eine Person kompliziert ist, wie gehen wir dann mit einer ganzen Gruppe oder unüberschaubaren „Masse“ von Menschen um, zu denen wir nicht mal eine persönliche Beziehung haben? Eine Herausforderung unserer Zeit scheint mir die Prognose zu sein, dass sich das Klima drastisch erwärmen wird, wenn es uns nicht gelingt, die Treibhausemissionen zu reduzieren. Das verspricht ein Chaos zu werden, gegen welches unsere aktuelle „Stadtmauer“ nicht halten kann. Aber wie kann eine umfassende Aufgabe wie diese von der Position des Individuums aus angegangen werden? Und wie können wir uns dem zuwenden, ohne vor Verzweiflung gelähmt zu sein, wie es in vielen Fällen von Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, der Fall ist?

Für einen Aspekt dabei halte ich, als Individuum öffentlich sichtbar zu werden und meine Gedanken und Ansichten zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, sie mögen anderen bei ihrer Orientierung dienen, ganz im Bewusstsein, dass ich damit angreifbar werde. Neben der Angst vor Krankheit und Tod stellt nämlich auch die Angst vor dem Exil und der Beziehungslosigkeit ein unbedingtes Element des inneren Chaos dar. Wir sind soziale Wesen, deren Überleben und langfristiges Wohlergehen in fundamentalem Maß von Beziehungen und gegenseitiger Zuwendung abhängig ist. Dementsprechend braucht es Mut, sich emotional zu exponieren und potenzieller Kritik und Ablehnung auszusetzen. Diese Art von Verletzlichkeit ist vermutlich jedem bekannt, der je für eine ihm oder ihr wichtige Sache eingestanden ist. Ich bin dankbar für einige Menschen, die sich öffentlich äußern und offen über Themen nachdenken, die mich beschäftigen. Das kommt mir gar nicht so einfach vor, weil offen zu denken erfordert, dass ich meinen Standpunkt bereit bin anzupassen, wenn im Gespräch neue Perspektiven auftauchen, an die ich noch gar nicht gedacht habe. Mich als jemand zu zeigen, der fundamental daran interessiert ist, was ein nützlicher Weg ist, die Welt zu sehen und zu ordnen, bedeutet, dass ich meine Position bereit bin zu korrigieren und aufgebe, im Recht sein zu wollen. Gerade der letzte Punkt kann einen mit Scham in Kontakt bringen und der Angst, von anderen nicht mehr respektiert oder geschätzt zu werden, wenn sich meine Perspektive als unzulänglich erweist. Sich dennoch zu zeigen und das Wagnis eines öffentlichen und offenen Dialoges einzugehen, empfinde ich aus diesem Grund als heldenhaft.

Klarheit und Mut

Die Voraussetzungen, die ich für diese Art von Heldentum sehe, liegen zum einen in innerer Klarheit, damit ich weiß, wovon ich spreche, wofür ich kämpfe und warum es mir wichtig ist. Habe ich diese Klarheit nicht, kann ich gegenüber Angriffen und Kritik nicht bestehen, da ich zu schnell verunsichert werde, vergesse, warum mein Anliegen eigentlich wertvoll ist und mich von anderen in Ecken stellen lasse, in denen sie mich und meine Stimme ignorieren können, sollte meine Position zu lästig sein. Wirkliche Veränderung ist unter Umständen alles andere als willkommen, da sie eben dazu auffordert, haltgebende Ordnung aufzugeben und sich neu zu orientieren, mit allen Ängsten und Unsicherheiten, die das mit sich bringt.

Zum anderen braucht es Mut, denn die Angst vor Blamage und Scheitern gehört inhärent zur Konfrontation des Chaos dazu und ist ab einem gewissen Punkt nicht reduzierbar, egal wie gut ich mich vorbereite. Mut jedoch schöpfe ich aus der Einsicht, dass mein Bemühen Sinn hat, egal ob ich dabei scheitere. Dass es etwas Wichtigeres für mich gibt, als die Sicherheit, dass es gut ausgeht. In Notsituationen orientiere ich mich auch an dem Spruch „Wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe, stärkt mich die Wand.“ – ich weiß, dass jede Alternative mein Leid vergrößert, also gehe ich das Risiko ein und betrete unbekanntes Territorium.

Genau das ist der Schritt, den Helden machen, wenn sie einsehen, dass es letztlich nur zu mehr Leid führt, wenn sie innerhalb der Stadtmauer bleiben und sich nicht der Herausforderung stellen, die das Element des Chaos ihnen stellt.