Wenn ich Leute frage, ob sie schon mal etwas von Bedürfnissen als psycho-theoretisches Konzept gehört haben, antworten die meisten mit der Bedürfnispyramide von Abraham Maslow. Maslow ist der Begründer der humanistischen Psychologie und hat schon in den 40er Jahren über die Bedingungen geschrieben, die Menschen brauchen, um ihr volles Potenzial zu entwickeln. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GfK), baut u.a. auf Maslows Überlegungen auf, geht allerdings mit Bedürfnissen anders um, als Maslow, da er sie nicht in eine Hierarchie einordnet, sondern eher als gleichwertig nebeneinander stellt.

Bedürfnispsyramide nach Maslow
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Mir kam das am Anfang meines GfK-Studiums sehr entgegen, denn auch ich fand den Gedanken befremdlich, Bedürfnisse hierarchisch anordnen zu wollen. Ich vermute mal, ich hatte keine Lust MICH hierarchisch einzuordnen, z.B. indem ich denke, dass ich gerade am Anfang der Evolution bin, wenn ich Hunger habe oder Schutz suche – und dass das irgendwie bedeutet, ich sei nicht gut oder weit genug, um zum durchlauchten Kreis der Erleuchteten zu gehören. Irgendwann kam mir aber die Idee, dass es hier um Entwicklung geht, also die Entwicklung von Strategien zur Erfüllung von Bedürfnissen – eine Art Reihenfolge, in der Menschen in der Regel lernen, sich um diese Bedürfnisse zu kümmern. Und damit kann ich mich sehr gut anfreunden.

Ken Wilber hat mir in dieser Sache sehr geholfen, indem er Dominanz-Hierarchien von Wachstums-Hierarchien unterschieden hat. Während erstere die soziale Hackordnung beschreiben, die zwar ihren Sinn haben kann, aber oft zu Schmerz und Zerstörung führt, beschreibt letztere eher eine Sequenz von Bedingungen. Also bevor jenes da sein kann, muss erst dieses entstanden sein. Das hat nichts mit Unterdrückung zu tun, denn wer würde behaupten, dass Eichel und Eiche im gleichen Wachstumsstadium sind und von daher die gleichen Bedingungen bräuchten?

Illustration der Bedürfnispyramide

Im Folgenden will ich die Wachstumsschritte aus Maslows Pyramide beschreiben, so wie ich sie lebendig nachvollziehen kann. Ich bin ein Fan von Post-apokalyptischen Szenarien, das heißt Situationen, in denen auf irgendeine Weise das System unserer Zivilisation zerstört wurde (Zombie-Infektion, Nuklearer Holocaust, Meteoriten-Einschlag etc.) und die Überlebenden sich neu organisieren müssen. Natürlich will ich das nicht erleben und wünsche es auch niemandem, aber ich lese gern davon, schaue Filme oder spiele PC-Spiele dazu, weil ich es spannend finde, wie Menschen unter diesen rohen Bedingungen leben und in Eigenverantwortung eine neue Gesellschaft aufbauen. Für diesen Artikel ist das ideal, denn gerade die Entwicklung von Strategien in den unteren Etagen der Bedürfnis-Pyramide lassen sich daran gut illustrieren.

Basis: Lebensnotwendiges

In einem post-apokalyptischen Szenario sind die Prioritäten ganz klar: Falls es nicht gegeben ist, muss ich sicherstellen, dass ich Luft, Wasser und Nahrung habe. Das heißt, ich muss LERNEN, wie ich das bekommen. Ich werde das immer wieder brauchen, klar, aber wenn ich gelernt habe, wie das unter den aktuellen Bedingungen nachhaltig geht (Jagen, etwas Anbauen, Feuer machen, Luftzufuhr schaffen, der ganze Survival-Kram halt), kann ich diese Bedürfnisse stillen und zum nächsten gehen. Natürlich bedeutet das auch, dass ich umlernen muss, wenn sich die Bedingungen ändern (z.B. wenn bestimmte Beutetiere nicht mehr verfügbar sind) und diese Stufe der Pyramide wieder meine Aufmerksamkeit erfordert, egal wo auf der Pyramide ich mich bis eben noch herumgetrieben habe.

Das nächste wäre dann, laut Maslow, Schutz und körperliche Sicherheit. Dazu gehört eine Behausung, die warm hält (oder kühlt, je nachdem) und vor Witterung oder evtl. Strahlung schützt. Oft gibt es Wildtiere oder feindliche Gruppen/Stämme (oder eben Zombies) in diesen Szenarien, also ist’s z.B. gut eine Mauer um die Behausung zu haben und Waffen, um sie zu verteidigen. Zur Sicherheit beitragen kann vielleicht noch, mich im Terrain rundherum auszukennen, zu wissen, wo’s gefährlich ist und wo sicher und eine Art Frühwarnsystem zu haben, bevor ich mich entspannen kann.

Zugehörigkeit und Beachtung

Ist das geregelt, wandert die Aufmerksamkeit zum Thema Zugehörigkeit und Beachtung – jedenfalls, wenn ich in einer Gruppe bin. Als Erwachsener mit Erinnerungen an Menschen, zu denen ich mich zugehörig fühle, werde ich eine Weile überleben können, ohne dass ich hier und jetzt Menschen (oder Tiere) brauche. Ich schätze mal, dass ich auf die Weise aber irgendwann auch zu der Frage komme, wozu ich jetzt noch weiterleben soll, wenn ich ja doch alleine bin. Und je größer die Frage wird, desto weniger Überlebenswille würde mir bleiben, so dass ich irgendwann daran sterbe – z.B. weil ich aus Depression versäumt hab, mich um’s Essen zu kümmern, oder unvorsichtig durch die Wildnis gelaufen und überfallen worden bin.

Bin ich jedoch Teil einer Gruppe von Überlebenden, käme mir spätestens ab jetzt die Frage, ob ich einen Platz in der Gruppe habe. Wie sehen mich die anderen? Da ich ohne die Gruppe nicht (lange) überleben kann, ist Zugehörigkeit und Beachtung ein unheimlich wichtiges Thema. Sie definiert sich unter solchen Bedingungen erstmal darüber, was ich zur Gruppe beitragen kann, ob ich das, was die Gruppe für mich aufbringen muss, mit meinem Beitrag ausgleichen kann – auf ganz unterschiedliche Weise. Vielleicht kann ich gut jagen und kämpfen, habe viel Erfahrung mit Acker- oder Gartenanbau. Oder ich kenne viele Geschichten und Witze, mit denen ich die Stimmung aufhellen kann. Es könnte auch gut sein, dass ich gut organisieren und delegieren kann, so dass ich zum Anführer werde. Vielleicht war ich vor der Apokalypse als GfK-Trainer tätig und bin gut darin, Konflikte so zu begleiten, dass alle Beteiligten ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen 😉 In jedem Fall geht es bei diesem Schritt darum, eine Fertigkeit zu entwickeln (wenn ich sie nicht schon habe), die mir die Zugehörigkeit sichert. Und dann dafür zu sorgen, dass das möglichst auch alle wichtigen Leute wissen und beachten, die darüber entscheiden, ob ich dabei bin, oder nicht.

Kontakt, Liebe und Gemeinschaft

Ist die Zugehörigkeit keine Frage mehr, wird meine Aufmerksamkeit zu den Menschen in der Gruppe wandern, mit denen ich am leichtesten Kontakt herstellen kann, die mich am meisten interessieren und mit denen ich auch am meisten gemeinsam habe. Ab hier geht es um Freundschaft, Kontakt, Verbindung und Liebe. Mir scheint, dass das noch etwas anderes ist als die basale Zugehörigkeit, die es zum Überleben braucht, da ich für letztere auch Zweckallianzen eingehen kann, die eher durch den äußeren Druck zusammengehalten werden als durch inneres Interesse. Den Unterschied merkt man, wenn der äußere Druck wegfällt, wie z.B. wenn eine Gruppe Überlebender, die über Monate hinweg eng zusammengehalten hat, auf eine große Siedlung trifft, die Zugehörigkeit, Sicherheit und einen Überfluss an Ressourcen bietet, und dann merkt, dass ihr Interesse zu anderen Menschen wandert, als die in der Gruppe der Überlebenden. Diese anderen Menschen teilen in der Regel ähnliche Werte, bestärken und inspirieren einen und erfüllen so das Bedürfnis nach Gemeinschaft. Ich persönlich kann nicht sagen, dass ich mit diesem Schritt fertig bin, oder der erledigt ist, denn Freundschaften und Beziehungen (weiter-) zu entwickeln interessiert mich jeden Tag 🙂

Soziale Geltung, Sinn und Selbstverwirklichung

Wenn ich mich richtig voll und satt mit Beziehungen und Gemeinschaft fühle, bekomme ich in der Regel Lust zum nächsten überzugehen und so etwas wie soziale Geltung und Sinn zu erarbeiten. Im Prinzip ist das der Schritt, an dem ich heute am meisten zu tun habe, deswegen hat das post-apokalyptische Szenario eigentlich ausgedient, denn die Vorbedingungen dafür sind dieselben, die ich heute auch brauche. Aber der Kontinuität wegen: Stellen wir uns vor, ich lebe in einer richtig großen Siedlung, die gut geschützt und mit allem Nötigen versorgt ist. Ich habe meinen Platz, ich habe Familie, Freunde, Menschen, die meine Werte teilen. Jetzt fang ich an, zu schauen, wie ich das, was ich kann und weiß, meine Expertise, zum Wohle des Ganzen einsetzen kann – das heißt zu meinem eigenen Wohle, zu dem meiner Liebsten (und sei es nur durch Einkommen) und der gesamten Kolonie. Maslow spricht hier von Status, Ruf, Anerkennung, wobei ich glaube, dass das Vehikel sind, Kanäle, Strategien, um Wirkung (oder aber auch Zugehörigkeit, s.o.) zu haben und etwas bewegen zu können – keine eigenen Bedürfnisse. Es tut gut, wenn ich weiß, dass das, was ich denke und tue, einen Unterschied macht. Aber dafür ist wichtig, dass ich weiß, WOZU ich etwas tue, und wie es wirkt. Ich brauche Feedback, um zu wissen, dass das, was ich tue so wirkt, wie ich es mir wünsche – sei es, dass ich Menschen eine neue Perspektive gezeigt habe, dass mein Produkt ihnen neue Möglichkeiten in ihrem Leben geschaffen hat, dass sie sich sicherer, wohler, zufriedener, entspannter, inspierter oder dergleichen fühlen, als wenn ich nichts gemacht hätte. Wenn ich keine Rückmeldung bekomme, weiß ich auch nicht, ob ich meinem Sinn gefolgt bin und ich kann meine Erfolge nicht feiern.

Letztlich geht Maslow darauf ein, indem er an die Spitze der Pyramide die Selbstverwirklichung setzt, das heißt, das Umsetzen des lebendigen Potenzials, das in mir als Mensch mit all meinen Anlagen, Fähigkeiten und Erfahrungen verankert ist. Da ich in jedem Moment neue Erfahrungen mache, meine Fähigkeiten sich weiter entwickeln und sich meine Perspektiven dadurch ändern, werde ich mit der Entwicklung von Strategien zur Selbstverwirklichung wohl kaum jemals fertig sein. Aber das stört keinen großen Geist 😉

Karte und Gebiet

Die Pyramide bedeutet nicht, dass Bedürfnisse auf hierarchische Weise erfüllt oder nicht erfüllt sind. Ich kann einen wunderschönen Abend mit einer Frau verbringen, deren Anwesenheit für Kontakt, Intimität und Liebe sorgt. Im nächsten Moment gehe ich aus dem Haus und über die Straße, bemerke zwei dunkle Gestalten zwanzig Meter hinter mir und ich denke nur noch an Sicherheit und körperliche Unversertheit. Die Pyramide erlaubt das dynamische Hin und Her, bei dem ich, so gut ich kann, auf die aktuelle Situation reagiere, statt das sie als statisches Stufenmodell voraussagt, dass immer nur ein Bedürfnis nach dem anderen im Fokus liegt. Die allgemeine Aussage ist eher, dass die Frage „Was muss ich lernen, um gut im Leben zurecht zu kommen?“ in der Reihenfolge der Pyramide beantwortet wird.

In diesem Sinne ist mir wichtig, dass Maslows Pyramide ein Modell ist, das tatsächlich vorhandene Dynamiken klären und transparenter machen soll – sie ist keine Roadmap, an der ich mich von Moment zu Moment orienteren würde, das tut mein Körper schon für mich. Aber ich glaube, sie kann helfen, nachzuvollziehen, wie wir unter bestimmten Umständen unsere Prioritäten setzen. Warum wir (laut Rosenberg) zwar alle dieselben Bedürfnisse haben, jedoch in der gleichen Situation unterschiedlich schwer gewichten können. Und sie schärft den Blick für Entwicklungsunterschiede, die in unserer heutigen Zeit der gemischten Kulturen besonders wichtig sind, da sie meiner Einschätzung nach für den Großteil der gesellschaftlichen Konflikte verantwortlich sind (siehe Es geht nicht um Religion…).

Eine noch genauere Karte bietet meiner Einschätzung nach Clare GravesSpiral Dynamics. Aber darauf gehe ich ein anderes Mal ein.

2 Gedanken zu “Abraham Maslow und seine Pyramide

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